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Auf dem Weg zum «goldenen Papier»

Trotz der Vorbildfunktion der Schweiz in der dualen Berufsbildung haben manche 25- bis 64-Jährige keinen Abschluss und sind dadurch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Ein nachgeholter EFZ-Abschluss nach Artikel 32 kann helfen. Fünf angehende Gipser-Trockenbauer ­erzählen der «Applica» von ihrer Motivation.
02.04.2025 Grundbildung
  • Muhamed Kjazimoski, Gazmend Sejdini, Dmytriy Ratushnyy und Alessio Varone (v. l.).  Es fehlt Pascal Duttweiler.

    Muhamed Kjazimoski, Gazmend Sejdini, Dmytriy Ratushnyy und Alessio Varone (v. l.). Es fehlt Pascal Duttweiler.

Die Interviews mit den fünf angehenden Gipser-­Trockenbauern EFZ finden an der Berufsfachschule (BFS) Gipser in Wallisellen ZH statt. Ihre Wege in die Nachholbildung nach Artikel 32 sind vielfältig: Muhamed Kjazimoski (45) aus Nordmazedonien und Alessio Varone (42) aus Italien haben in ihrer Heimat die Matura gemacht, während Gazmend Sejdini (37) aus Mazedonien eine theoretische technische Ausbildung in ­Italien absolvierte. Aus unterschiedlichen Gründen kamen sie in die Schweiz und arbeiteten hier über viele Jahre auf dem Niveau eines ungelernten Gipsers.

Pascal Duttweiler (40, Schweiz) musste seine angestrebte Grundausbildung zum damaligen Elementbauer wegen Konkurses der Lehrfirma abbrechen und arbeitete in der Folge als Hilfsgipser. Dmytriy Ratushnyy (26, Ukraine) ist bereits seit 16 Jahren in der Schweiz und hat das Berufsattest als Gipser-Trockenbauer.

Alle fünf Männer haben aber etwas gemeinsam: Sie verfügen über ausreichende Grund­kompetenzen als Gipser, um den eidgenössisch anerkannten Berufsabschluss (EFZ) nach ­Artikel 32 zu machen:

  • Nachweis von mindestens 5 Jahren Berufserfahrung zum Zeitpunkt des Qualifikationsverfahrens (QV), drei davon als Gipser/in
  • Gute Grundkompetenzen
  • Motivation und Durchhaltewillen
  • Verstehen der deutschen Sprache.

Artikel 32 der Berufsbildungsverordnung regelt die Zulassung Erwachsener zu einer Nachhol­bildung oder einer Berufsprüfung. Die Nachholbildung orientiert sich grundsätzlich an der ­gleichen Struktur und den gleichen Inhalten wie die Ausbildung von Jugendlichen. Nachhol­bildungslernende absolvieren das gleiche QV. 

Nachholbildung aus Berufsstolz

Familienvater Duttweiler macht die Nachhol­bildung aus eigenem Antrieb – für ihn ist es ein logischer Karriereschritt. Bei Ratushnyy war es die Schwester, die ihn auf einen Abschluss, den er «goldenes Papier» nennt, gedrängt hat. «Ich solle mich in den Arsch klemmen», erzählt er und lacht. 

Auch Arbeitgeber können einen Berufsabschluss anregen, wie Sejdini berichtet. Sein Chef habe ihn darauf aufmerksam gemacht. Sejdini musste nicht lange überlegen, denn er will seine Arbeit richtig machen, um Fehler zu vermeiden, und den Arbeitsablauf verstehen. «Meine Arbeit macht mich stolz und ich mache sie gerne.» 

Nicht jeder Chef zeigte sich begeistert, als sein Hilfsarbeiter den Entschluss fasste, die Nachholbildung anzugehen. Oft stand die Sorge um den Arbeitsausfall im Vordergrund. Doch in einem aufschlussreichen Gespräch mit Christoph Roth, dem Schulleiter der BFS Gipser, wurde schnell klar: Die Fehlzeiten sind überschaubar – insgesamt 48 Tage in zwei Jahren.

Rektor Roth nahm sich auch Zeit, um die Arbeitnehmenden bei der Anmeldung zu unterstützen und die Arbeitgeber umfassend zu den Kosten zu informieren. Er zeigte auf, dass sich die Investition lohnt: Am Ende stehen qualifizierte Mitarbeitende, die ihre Arbeit nicht nur ausführen, sondern auch verstehen – und dadurch effizienter arbeiten.

Konkret bedeutet das: Von den insgesamt 48 Schultagen übernimmt der Gimafonds für 
30 Tage eine Taggeldentschädigung, sodass lediglich 18 Fehltage zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geregelt werden müssen. 

Entsprechend informiert, liessen sich die ­Arbeitgeber der fünf Protagonisten darauf ein und suchten eine für alle passende Lösung. So müssen Alessio Varone und Gazmend Sejdini keine Ferien für die Fehltage beziehen – und das ohne Lohneinbusse. Auch Muhamed ­Kjazimoski fand gemeinsam mit seinem Arbeitgeber eine gute Vereinbarung: Er arbeitet samstags, gibt Ferien- und Überstunden ab und vermeidet so ebenfalls Lohneinbussen. Besonders für Familienväter ist eine solche Regelung ­wichtig. 

Anmeldung auch nach Lehrbeginn

Zur Anmeldung für die Nachholbildung beim Kanton haben alle fünf nur Positives zu berichten. Varone schmunzelt: «Mein Chef hat alles erledigt – so lange wie damals war ich noch nie in seinem Büro.» Was viele Interessierte nicht wissen: Eine Anmeldung ist auch noch nach dem üblichen Lehrbeginn im August möglich, da der erste Schulblock in der BFS Gipser meist erst im September ist. 

Kjazimoski meldete sich mithilfe des Berufsbildungszentrums Zürich an. Er habe von der Möglichkeit der Nachholbildung nach Art. 32 nur gewusst, weil seine Frau diese in ihrem Beruf auch gemacht habe. «Die Firmen sollten ihre Mitarbeitenden darauf hinweisen, dass dies möglich ist», appelliert er an die Unternehmer­innen und Unternehmer.

Eine Studie des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung zeigt, dass Betriebe im Bereich Nachholbildung zu Chancengebern werden, wenn sie Mitarbeitende aktiv über entsprechende Möglichkeiten informieren, ihnen Strukturen zum Lernen und eine Ansprechperson im Unternehmen zur Verfügung stellen. 

Ohne EFZ fehlen Berufsbildner

Auch wenn nicht jeder Unternehmer die Nachholbildung als Win-win-Situation betrachtet, leistet sie angesichts des Fachkräftemangels einen wertvollen Beitrag. Denn aus den EFZ-Absolventen können künftige Projektleiter, Berufsbildner oder sogar Meister ihres Fachs werden. Besonders für Betriebe ist das ent­scheidend, denn ohne Berufsbildner dürfen sie selbst keine Lernenden ausbilden.

Muhamed Kjazimoski betont, wie wichtig die Ausbildung ist: «Es ist gut, die Ausbildung jetzt nachzuholen, weil ein Abschluss in der Schweiz sehr wichtig ist. Falls ich arbeitslos werde, hilft mir ein EFZ, bessere Jobs zu finden. Ohne Abschluss habe ich schon erlebt, wie schwierig es ist, eine gute Stelle zu bekommen.» Ein offizieller Abschluss zeige, was er wisse, und sorge dafür, dass er nicht als Hilfsarbeiter angesehen werde. Zudem gebe er ihm mehr Sicherheit.

Alessio Varone sieht das auch so: «Mir fehlt nur noch dieses eine Papier, das für mich wichtig und richtig ist. So gebe ich diesem Land mehr als nur Steuern, denn ich möchte nicht nur finanziell, sondern auch mit meinen beruflichen Fähigkeiten zur Gesellschaft beitragen.» Seine Frau habe ihn dabei bestärkt: «Schatz, mach das!»

Wichtiges zur Nachholbildung Gipser-Trockenbauer EFZ nach Art. 32

  • Die Kosten für den Besuch der Berufsfachschule trägt der Kanton. Die Kosten für die überbetrieblichen Kurse siehe Absatz Kostenbeteiligung.
  • ­Vorbereitungskurse für das QV übernimmt der Gimafonds und ­werden nach Bedarf angeboten.
  • Potenzialabklärung: CHF 1000.–
  • Kosten QV: zirka CHF 1800.–, kantonal geregelt (die meisten Kantone übernehmen die Kosten).

Kostenbeteiligung Gimafonds

  • Der Gimafonds übernimmt nach Abschluss des QVs entstandene Kurskosten bis max. CHF 6000.– sowie max. 30 Tage Lohnausfall­entschädigung (sofern der ­Auszubildende Gimafonds-berechtigt ist). 

Besonderheiten

  • Der Lohn während der Ausbildungsdauer ist Verhandlungssache und richtet sich nach der Berufserfahrung und den Lebenshaltungskosten der Auszubildenden. 
  • Der Betrieb verpflichtet die Aus­zubildenden nur für die festgelegte Ausbildungszeit, allenfalls mit einem ­bindenden Anschlussvertrag nach Absprache. 

Alle Informationen zur Nachholbildung finden Sie hier.

Nachgefragt

«Applica»: Herr Roth, wieso ist die Nachholbildung  mit Abschluss EFZ wichtig?
Sie ermöglicht den Absolventen den Zugang zu ­weiterführender Bildung. Ohne das EFZ bleiben sie im Status ungelernt, sind auf den Goodwill der Unter­nehmen angewiesen und können ihre Karriere nicht vorantreiben. Die Nachholbildung überwindet diese Hürden und schafft neue Perspektiven.

Was können Unternehmerinnen und Unternehmer tun?
Gezielt passende Mitarbeitende auf die Nachhol­bildung ansprechen und ihnen diese Möglichkeit nahelegen. 

Wie kann der SMGV unterstützen?
Gut wäre eine Art Ausbildungsvereinbarung, die Absolventen einer Nachholbildung beispielsweise für ein bis zwei Jahre an den Betrieb bindet. Die Nachholbildung soll für Unternehmer und Arbeitnehmer ein Geben und ein Nehmen sein. Ein solches ­Konzept fehlt bislang, würde jedoch den Ausbildungsbetrieben eine Orientierung bieten.

Wie helfen Sie als Schulleiter? 
Ich unterstütze überall, wo es nötig ist, und helfe ­denjenigen, die eine Nachholbildung anstreben, sich im oft unübersichtlichen administrativen Anmeldedschungel zurechtzufinden.

Welche Rolle hat der Gimafonds? 
Eine entscheidende! Durch die Lohnausfallentschädigung wird die Nachholbildung vorangetrieben, was hilft, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. 

«Die Nachholbildung wirkt dem Fachkräftemangel entgegen»

Christoph Roth, Schulleiter der Berufsfachschule Gipser, Wallisellen

Text und Bild: Cornelia Sigrist

 

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